Ernährungsdemokratische Grundsatzerklärung
Das Netzwerk der Ernährungsräte ist ein Zusammenschluss politisch unabhängiger, zivilgesellschaftlicher Bündnisse. Diese haben zum Ziel, alle Akteurinnen und Akteure der gesamten Wertschöpfungskette auf Augenhöhe einzubinden.
Gemeinsam stehen wir für das Ziel, unsere Ernährungssysteme umzugestalten: So, dass sie ökologisch nachhaltig, klimagerecht und sozial fair werden und jederzeit das Menschenrecht auf Nahrung garantieren können – für alle und überall. Die Klimakrise, die schwindende Biodiversität und die wachsende soziale Ungleichheit machen deutlich, dass wir die notwendigen Veränderungen nicht länger aufschieben dürfen.
Wir fordern eine öffentlich geführte und auf demokratische Beteiligungsmöglichkeiten gestützte Debatte über den Umbau unseres Agrar- und Ernährungssystems. Uns eint die Überzeugung, dass eine Politik, die den eingangs beschriebenen Wandel tatsächlich schnell und erfolgreich durchsetzen will, dabei auf einen möglichst breiten gesellschaftlichen Rückhalt angewiesen ist.
Die Agrar- und Ernährungswende ist das gemeinsame politische Projekt des Netzwerks. Die Gründung von immer mehr Ernährungsräten spiegelt das wachsende Bewusstsein der Bevölkerung für die Bedeutung dieser Wende. Sie ist nicht zuletzt eine Antwort auf das Fehlen einer durchsetzungsstarken, ressortübergreifend handlungsfähigen Agrar-und Ernährungspolitik, die ihren Auftrag als zentrale Zukunftsfrage mit höchster Dringlichkeit behandelt und die notwendigen Maßnahmen umsetzt. Deshalb schalten sich jetzt immer mehr Menschen mit persönlichem Engagement und gemeinwohlorientiertem Handeln in die gesellschaftliche Debatte und den politischen und demokratischen Prozess ein.
Landwirtschaft innerhalb planetarer Grenzen
Landwirtschaft darf weder die Biosphäre noch die Atmosphäre übermäßig belasten. Biodiverse, ökologische Agrarkulturlandschaften, die sich positiv auf das Klima auswirken und die Bodenfruchtbarkeit erhalten und aufbauen, müssen Vorrang vor ressourcenzehrenden Produktionsverfahren haben. Die Ausbildung aller LandwirtInnen soll dies als zentrale Themenschwerpunkte behandeln. Landwirtschaft verdient besondere Wertschätzung als unersetzlicher Teil der Wertschöpfungskette für unsere Nahrungsversorgung. Sie braucht daher unbedingt geeignete Rahmenbedingungen für betriebswirtschaftlich eigenständiges und auskömmliches Arbeiten innerhalb der planetaren Grenzen.
Nahrungsmittelproduktion: nah und krisensicher
Wir wollen Anbau und Erzeugung, überall dort, wo Flächen- und Wasserverfügbarkeit, sowie Bodenqualität dies ermöglichen, in unserer unmittelbaren Nähe stattfinden lassen. Außerdem wollen wir regionale Weiterverarbeitungsstrukturen stärken und neu aufbauen – damit sich ökologische ebenso wie soziale Kreisläufe wieder schließen oder neu bilden können. Gleichzeitig muss Lebensmittelverschwendung während der Ernte, in Verarbeitung und Handel und in Privathaushalten auf ein Minimum reduziert werden. So schützen wir unsere lokale Nahrungsversorgung vor kritischen Abhängigkeiten und machen sie widerstandsfähiger gegenüber globalisierter Marktmacht. Für die Umsetzung dieser Ziele müssen kommunale und staatliche AkteurInnen, UnternehmerInnen und KonsumentInnen gleichermaßen Verantwortung übernehmen.
Zugang zu Land, Saat-und Tierzucht: zukünftig gemeinwohlorientiert
Besitz, Pacht und Bewirtschaftung von landwirtschaftlichem Grund und Boden müssen so organisiert werden, dass sie den gemeinsamen Interessen von BäuerInnen, Beschäftigten in Erzeugung, Verarbeitung und Vermarktung und KonsumentInnen entsprechen. Dafür brauchen wir eine Bodenpolitik, welche die natürlichen Grundlagen unserer regionalen Nahrungserzeugung schützt und zugleich einer bäuerlichen Landwirtschaft ausreichend Zugang zu fruchtbarem Ackerland gewährt. Die Spekulation mit landwirtschaftlich wertvollen Flächen muss beendet werden. Statt an Dividenden interessierten InvestorInnen, müssen Ankauf und Pacht wieder ausschließlich den nachweislich selbst landwirtschaftlich Tätigen vorbehalten sein.
Saatgut und Nutztierrassen sind ein weltweites Gemeingut, das durch die Leistung vieler Züchtergenerationen zur essenziellen Quelle unserer gesamten Nahrungsversorgung wurde. Diese Quelle muss grundsätzlich und dauerhaft allen offen stehen und daher zu einem gemeinwohlorientierten, demokratisch kontrollierten System umgebaut werden. Auf natürlichem Wege erzeugte, gentechnikfreie Zuchtlinien von Pflanzen und Tieren dürfen nicht weiter privatisiert und keinesfalls patentiert werden.
Umgang mit Tieren in der Landwirtschaft: tiergerecht!
Alle in der Landwirtschaft gehaltenen Tiere sind fühlende Wesen mit individuellen Bedürfnissen und arttypischen Sozialgefügen. Ihre jeweiligen Haltungsformen müssen daher tiergerecht sein. Rein profitorientierte Verwertungslogiken, die Lebewesen zu industrieller Massenware herabwürdigen und aus Kostengründen qualvolle Aufzucht- und Haltungsbedingungen in Kauf nehmen, dürfen keinen Platz in unserem Ernährungssystem haben. Das gegenwärtig in Deutschland geltende Tierschutzrecht hat Verfassungsrang und bietet – theoretisch – schon heute wirksame Handhabe gegen alle möglichen Formen der Tierquälerei. Effektiver Klimaschutz erfordert darüberhinaus die deutliche Reduzierung landwirtschaftlicher Tierbestände.
Solidarisch und am Gemeinwohl orientiert Wirtschaften
In unserem Ernährungssystem wollen wir fortan der klimagerechten, ökologisch nachhaltigen und sozial fairen Versorgung Vorrang einräumen. Dazu müssen wir es als Ganzes gemeinwohlorientiert denken und so umbauen, dass die gemeinsam verwaltete Nutzung seiner Ressourcen innerhalb planetarer Grenzen möglich wird. Die nötigen Veränderungen sollen dabei vor allem von der örtlichen Bevölkerung und lokalen AkteurInnen selbst getragen und umgesetzt werden. Ihre Vorhaben müssen umfassend und langfristig öffentlich gefördert werden. Wir wollen weitgehend gemeinschaftliches, demokratisch kontrolliertes Wirken möglich machen, jenseits der Marktmacht von Konzernen und fernab der Einflusssphären ihrer Lobbys. Wirtschaftsformen wie beispielsweise Genossenschaften, Regionalwert AGs, SoLaWis & Co betrachten wir als konkrete Umsetzungsbeispiele für das, was wir als Ernährungsdemokratie verstehen.
Esskultur und Ernährungsumgebungen: vielfältig und reichhaltig
Allen Menschen soll die Teilhabe an einer klimagerechten, agrarökologischen, vielfältigen und reichhaltigen Esskultur und der Zugang zu gesundheitsfördernden Lebensmitteln möglich werden. Vor allem Letzteres muss zudem von entsprechenden Bildungschancen für alle beteiligten Alters- und Zielgruppen – in Familien, Kitas, Schulen, Lehrküchen u.w. – begleitet sein. Mindesteinkommen und soziale Grundsicherung müssen allen den Einkauf entsprechender Produkte erlauben und so Ernährungsarmut vorbeugen.
Gutes Essen muss leicht erkennbar und je nach persönlichen und kulturellen Vorlieben und Qualitätsansprüchen wählbar sein. Solchen Standards müssen auch die jeweiligen Angebote der Außer-Haus- und der Gemeinschaftsverpflegung genügen.
Wertschöpfung und Lieferketten: fair entlohnt und menschenwürdig
ErzeugerInnen, VerarbeiterInnen, Land- und SaisonarbeiterInnen, Beschäftigte in (Groß-)Küchen und in der Gastronomie entlang sämtlicher Lieferketten müssen fair bezahlt und behandelt werden. Die Grundlage dafür ist die ökologisch nachhaltige, sozial faire und transparente Preisbildung vom Acker bis zum Teller, die dem Wert unseres Essens ebenso gerecht wird, wie sie die wahren Kosten seiner Herstellung widerspiegelt, einschließlich der Schäden an der Umwelt.
Alle Nachhaltigkeitsleistungen der Landwirtschaft und ihrer nachgelagerten Bereiche müssen allgemein anerkannt und angemessen honoriert werden.
Ernährungsdemokratie jetzt: Weil Essen politisch ist.
Wir verstehen die zukunftsfähige Entwicklung von Ernährungssystemen als primär politische Angelegenheit. Ernährungspolitik muss daher auf allen politischen Ebenen als Querschnittsaufgabe ressortübergreifend betrieben werden. Ernährungsdemokratie erfordert die Kommunikation und den Dialog auf Augenhöhe zwischen allen am Ernährungssystem beteiligten Akteur*innen. Als gesellschaftliche Gestaltungsaufgabe stellen sich dabei auch Fragen der demokratischen Kontrolle von Macht. Ernährungsdemokratie bedeutet für uns, die ernährungspolitische Willensbildung und gesamtgesellschaftliche Entscheidungsfindung stärker direktdemokratisch zu organisieren und damit zugleich die Macht und die Einflussnahme global agierender Konzerne zu begrenzen. Dabei vertrauen wir sowohl auf kommunaler wie auf Landes- oder Bundesebene neben anderen Formen der zivilgesellschaftlichen Partizipation auf den gezielten Einsatz und die Effizienz beratender (deliberativer) Demokratie. Dies soll jeweils im öffentlichen Auftrag mittels geeigneter demokratischer Teilhabe-Formate geschehen (z.B. lokale oder bundesweite BürgerInnenräte, u.a. als Vorbereitung auf lokale oder bundesweite Referenden.